Last Updated on 28. Dezember 2016 by Hubert Mayer
Dienstag, 5.7.2011: Die socialbar Stuttgart hatte bereits bei der letzten Veranstaltung im Hause der Strassenzeitung Trott-war angekündigt, auch an einer der legendären alternativen Stadtführungen von Trott-war teilnehmen zu wollen. Und nun war es soweit: Knapp 20 Interessierte trafen sich am Marienplatz in Stuttgart an den Aufzügen, um Stuttgart mal aus einer anderen Perspektive zu erleben. Quasi von unten. Aus der Sicht von Obdach- und Wohnsitzlosen. Dazu gleich auch noch mehr…
Unser Stadtführer, Thomas Schuler, war zeitig da – wir trudelten nur langsam ein, eine(r) nach dem/der anderen. Nach einer kurzen Begrüßung durch Brigitte Reiser, die unsere Gäste im Namen der socialbar Stuttgart Willkommen hieß und die Einladung zu unserer nächsten Veranstaltung, einen gemütlichen Grillabend im Cassiopaia (s.u.) verteilte, und einer kurzen Vorstellungsrunde übernahm er mit seiner charmanten und offenen Art und Weise die Führung und erzählte zunächst sehr offen über sein Leben: Ehemaliger Alkoholiker, Pegelsäufer und ursprünglich aus dem Badischen kommend im Suff nach einem Streit mit dem Chef per Anhalter in Stuttgart gestrandet. Durchschnittlich 16 Führungen im Monat macht Trott-war mittlerweile.
Am Treffpunkt Marienplatz erzählte er zunächst, wie unübersichtlich/-einsehbar dieser früher war und das hier Treffpunkt von Dealern, Süchtigen, Obdach- und Wohnsitzlosen war – und aufgrund der Lage die Polizei es schwer hatte, den Platz von der Strasse aus zu kontrollieren. Nachdem viele Beschwerden über das „Publikum“ des Platzes an die Stadt gerichtet wurden, wurde der Platz eingeebnet und ein Cafe – das Leben auf den Platz bringen soll (aber auch noch einem anderen Zweck dient…) darauf errichtet. Sitzplätze? Eher Mangelware. Fussballplatz eingegittert. Spielplatz? Wenn man genau hinsieht, findet man ihn… Er erzählte auch, wieso die öffentliche Toilette jetzt eine blaue statt wie ursprüngliche weiße Innenbeleuchtung hat und warum die umliegende Gastronomie wie der Burger King nachgezogen hat: Weil – … nein, das soll er euch selbst bei eurer nächsten Führung erzählen… Wer wissen will, warum in den Stadtbahnstationen immer wieder klassische Musik zu hören ist – nun, das war ein Tipp von Kollegen aus Hamburg, den auch dort wurde diese eingesetzt, um…. – ihr wisst schon – erfahrt in eurer eigenen Stadtführung… ;)
Vom Marienplatz ging es dann Richtung Trott-war mit einem kurzen Zwischenstopp beim Nestwerk in der Hauptstätter Strasse:
Im Hof von Trott-war erfuhren wir einiges über das daneben liegende Hans-Sachs-Haus („Teilstationäre Einrichtung, Betreutes Wohnen und Aufnahmehaus für Personen in sozialen Schwierigkeiten“), in dem jeder Bewohner neben einem eigenen Schlüssel auch eine eigene Klingel hat. Bei Trott-war erfuhren wir dann einiges über die verschiedenen Modelle, die dort für Verkäufer der Strassenzeitung angeboten werden, über die Tatsache, dass Trott-war sich selbst finanziert – und auch, dass daher natürlich Spenden gerne angenommen werden. Und nicht nur Geldspenden, sondern gerade für die Verkäufer auch Sachspenden, beispielsweise in Form von Kleidung, die dort in der Kleiderkammer dann ausgegeben wird. Auch das Thema „Begräbnis“ über Trott-war erzählt euch Thomas Schuler gerne bei eurer eigenen Führung mit ihm!
Von Trott-war aus gingen wir weiter an der Hauptstätter Strasse entlang und nach dem Möbelhaus ein paar Meter die Strasse hoch in die Fangelsbachstrasse. Von dort aus hatten wir zwei Institutionen im Blickfeld: Den Schlupfwinkel in der Schlosserstrasse, Anlaufstelle für auf der Strasse lebende Kinder und Jugendliche, der zwischenzeitlich wohl keine Zahlen mehr bekannt gibt, wo jedoch von Januar bis Juli 2006 alleine 650 Kinder und Jugendliche durchgeschleust wurden! Das jüngste bekannt gewordene Kind: 8 Jahre :( Insgesamt sind wohl bis zu 700 obdach-/wohnsitzlose Kinder/Jugendliche im Grossraum Stuttgart (VVS-Einzugsgebiet) bekannt und die Dunkelziffer wird in ähnlicher Höhe geschätzt. In ganz Deutschland geht man von 52.000 obdach-/wohnsitzlosen Kindern aus… Ich schrieb dann mal fleissig mit:
Ebenfalls im Blickfeld war die Hauptstätter Strasse 108: Die sog. Substitutionsambulanz. Hier erhalten heroinabhängige ihre Ersatzdroge Methadon, die nach Ansicht unseres Stadtführers sowohl das Leben für die Abhängigen verlängert als auch die Begierde nach Heroin zu drücken vermag. Die Angaben zur Beschaffungskriminalität, zu den Kosten von Heroin und zur Anschaffungsproblematik bitte ich euch, selbst bei der nächsten Stadtführung von ihm euch anzuhören…
Weiter ging es an der Hauptstätter Strasse entlang in die Feinstrasse,
von wo aus wieder zwei weitere Institutionen auf der Hauptstätter Strasse zu sehen waren: Links an der Kreuzung zur Weißenburgstrasse ebenfalls ein Wohnheim der ehemaligen Nestwerkstiftung: Hier finden diejenigen ein Heim, die am Methadonprogramm teilnehmen. Kein eigener Schlüssel wie im Hans-Sachs-Haus, sondern im Gegenteil Klingel mit Videoüberwachung: Wer randaliert, darf draussen schlafen, im Wiederholungsfall droht der Rauswurf aus Heim und Methadonprogramm. Bislang gab es diesbezüglich wohl keine ernsten Probleme, da jeder Teilnehmer weiss, wie ernst seine Lage ist. Rechts daneben steht das ZBS (Zentrale Beratungsstelle). Dort werden Männer und Frauen – strikt getrennt – empfangen, ihnen die ersten drei Tagessätze Hartz IV ausgezahlt – und Frauen direkt in Wohnheime bzw. Frauen-WGs weiter vermittelt und Männer erhalten dafür eine Isomatte und einen Schlafsack.
Hier erfuhren wir auch, dass im Grossraum Stuttgart wohl rund 950 Obdach- und Wohnsitzlose bekannt sind – die Dunkelziffer derjenigen, die sich nicht auf ein Amt trauen, wird auf rund 5.000 geschätzt! In ganz Baden-Württemberg erhöht sich die Zahl auf rund 21.000, ganz Deutschland wohl knapp eine Million Obdach- bzw. Wohnsitzlose.
So oft, wie bis dahin Obdach- UND Wohnsitzlose angesprochen wurden, musste ich doch endlich mal nachfragen – ja, es gibt einen Unterschied. Und ja – das erfahrt ihr auf der Führung, wenn ihr fragt ;) Mit Zahlen hat es unser Führer übrigens – löchert ihn bei eurer Führung, der kommen unglaubliche, leider auch traurige und bedrückende Zahlen zum Vorschein…
Weiter ging es vor die Franziskusstube, wo wir zunächst etwas über das Areal unter der Paulinenbrücke erfuhren – wie es bis vor 3 Jahren dort aussah, welche Probleme es zwischen Anwohnern, Dealern, Drogensüchtigen, Obdach- und Wohnsitzlosen gab, teilweise 4 Razzien am Tag – und wie diese „gelöst“ wurden. Auch eine Querverbindung zum Marienplatz wurde geschaffen -> nix neues, auch das erfahrt ihr selbst bei einer Führung.
Die Franziskusstube wird vom Franziskanerorden betrieben unter der ehrenamtlichen Leitung von Schwester Margret – hier bekommen die Obdachlosen und Wohnsitzlosen ein kostenloses Frühstück – freilich nur, wenn sie zuvor der Andacht lauschen :)
Weiter ging es Richtung Wilhelmsplatz, wo kurz davor ein Frauenwohnheim („Neefhaus“) zu finden ist. Auch hier bekamen wir einige Informationen zum Ablauf dort, so hat es beispielsweise eine 24-Stunden therapeutische Betreuung und kann bis zu 60 Frauen aufnehmen. Details erspare ich an dieser Stelle… Von dort aus können die Frauen, die diese Hilfe benötigten, weiter in andere Frauenwohnheime mit weniger intensiver Betreuung oder Frauen-WGs der Caritas vermittelt werden.
Als vorletzte Station stand der Platz hinter der Leonhardskirche auf dem Programm, wo er uns einiges zur Vesperkirche erzählte, was für mich weniger neu war, da ich da selbst auch schon mitgeholfen habe und auch nächstes Jahr wieder möchte. Im Jahr 2011 waren es täglich um die 800 Gäste, die für 1,20 EUR in sieben Wochen der Öffnungszeit sich eine warme Mahlzeit dort gönnten, die rund 50-70 ehrenamtliche Helfer ausgaben. Auch gab es ehrenamtliche Unterstützung von drei Allgemeinärzten, einem Zahnarzt, drei Tierärzten und drei Friseuren(Innen). Außerhalb der Vesperkirchenzeit teilen sich wechselweise Einrichtungen in der Olgastrasse 46 (Caritas) und die Diakonie in der Büchsenstrasse die Verpflegung sozial Benachteiligter.
Auch erzählte Herr Schuler, wie es früher neben dem Parkhaus ausgesehen hatte, wo heute die Skatebahn und der Spielplatz sind. In dem damals parkähnlichen Gelände trafen immer wieder Heroinabhängige und Alkoholiker aufeinander, was zu ständigen Ärger führte. Schlimmer noch – im dortigen, ca. 3×3 m grossen Sandkasten wurden im Zuge der Umgestaltung dieser Ecke rund 500 Einmalnadeln entdeckt. Da kam bei uns ein betretenes Schweigen auf!
Abschliessende Station war die die U-Bahnhaltestelle Charlottenplatz, die schön hell erleuchtet ist – aber nicht immer war. Auch hier erfuhren wir, wie es bis vor ein paar Jahren aussah und wie die Entwicklung zum heutigen Ort war (inkl. der Info, dass das wohl mit 30 Cent die günstigste öffentliche Toilette Stuttgarts ist ;))
An der Stelle war – auch aufgrund unserer zahlreichen Fragen – die Tour etwas verspätet zu Ende – und wir zollten Thomas Schuler Respekt und Applaus für eine tolle, interessante und lehrreiche Stadtführung.
Etwa die Hälfte der Teilnehmer ließ es sich nicht nehmen, noch einen Absacker im Amadeus zu nehmen – wir haben uns sehr gefreut, dass auch zwei „Neulinge“, also zwei, die zuvor noch auf keiner socialbar waren, hier mit sind – und auch unser Stadtführer. So genossen wir den Abend bei leckerem Essen und kühlen Getränken im gemütlichen Innenhof des Amadeus und tauschten uns weiter über die Erfahrungen des Abends und die kommenden socialbars aus.
Das waren zwei Stichworte;
1) Wer selbst eine alternative Stadtführung mitmachen möchte: Thomas Schuler freut sich auf euch und ihr dürft euch auf ihn freuen! Kontakt über Trott-war: Hauptstätter Strasse 138a, 70178 Stuttgart – www.trott-war.de
Ihr erreicht ihn per E-Mail unter tschuler@trott-war.de oder stadtführung@trott-war.de oder klassisch unter 0711/6018743-14 bzw. Mobil unter 0162- 6906134
2) Die nächste socialbar hat einen Sommerschwerpunkt, das heisst, wir treffen uns mit weniger Programm – dafür mit Grillgut und kühlen Getränken und freuen uns auf eure verbindliche Zusage (wir kaufen einen Grundbestand Grillgut pro Person mit der Bitte um eine kleine Spende und es wäre sehr schade, wenn wir auf den Kosten sitzen bleiben würden oder zu wenig hätten für alle) unter socialbar Stuttgart. Wir freuen uns darauf, dem Motto „online vernetzen, offline bewegen“ gerecht zu werden und mit euch einen schönen, gemütlichen und erholsamen Abend zu verbringen:
Wann? 19.07.2001 ab 18.30 Uhr
Wo: Auf dem Freigelände im Wald beim Bioland Restaurant Cassiopaia
Details zu Programm und Ablauf: socialbar stuttgart
Wir freuen uns auf euch. Bitte meldet euch direkt bei trott-war für dei Stadtführungen und bei uns im Wiki für die socialbar(s) an.
Herzlichen Dank auch an Johannes Brehme, der die Bilder gemacht und mir für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt hat.
Und ein letzte Aufruf: Vom 12.-17.07.2011 findet auf dem Marktplatz das Festival der Kulturen statt – hier werden noch dringend ehrenamtliche Helfer gesucht für die Getränkestände (2-2,5 Stunden Schicht; Getränkeausschank, Bier zapfen, wer kann, Kasse, Spülen) – wer diese Zeit erübrigen kann und dafür gerne ein Getränk und was zu essen (ich verrat auch nicht, wie toll das anschliessende Helferfest ist *g*) bekommen mag, der meldet sich bitte bei:
Elene Böcher
Forum der Kulturen Stuttgart e. V.
Projektorganisation – Pressearbeit
Marktplatz 4
70173 Stuttgart
Tel: 0711 / 248 48 08-17
Fax: 0711 / 248 48 08-88
E-Mail: elene.boecher@forum-der-kulturen.de
www.forum-der-kulturen.de
- KW46-24 Vorsorgeuntersuchung, Bewegung, To-dos abarbeiten, Thermalbad, Wochenende - 17. November 2024
- KW45-24 Nacharbeiten, Bewegung, Abschied, VVB, Stuttgart, Wein mit Torsten - 10. November 2024
- KW44-24 Montagsstress, DHDL, Apple Watch, Beisetzung, langes Wochenende, iPad und Babyschabrackentapir - 3. November 2024
Pingback: Heimatliebe Stuttgart: Mit dem Neckar Käpt'n über den Neckar schippern und mehr | TravellerblogTravellerblog